Von Zahnpasta, Marshall Goldsmith und der Extra-Portion Senf

April 18, 2021 SGuenther No comments exist

Als ich Kind war, war unsere Familien-Zahnpasta immer blend-a-med. Keiner sprach darüber und es wurde auch niemals in Frage gestellt. Erst als ich im Pubertier-Alter ohnehin alles in Frage stellte, fragte ich: Warum immer blend-a-med? 
Die Antwort meiner Mutter war, dass diese Zahnpasta vom Zahnarzt auf ihre Frage hin als die beste empfohlen worden sei. Unser Zahnarzt, so erinnere ich mich, stand damals kurz vor der Rente. Er stammte somit aus einer Zeit, in der die Auswahl an Zahnpasta vermutlich noch sehr viel geringer war als in meiner Kindheit. Erst später, als Erwachsener, lernte ich, dass fast alle Zahnpasta-Alternativen praktisch gleichwertig sind – Hauptsache sie enthalten ein Minimum an Fluor für den Zahnschmelz. 
Und so verstand ich, dass blend-a-med sicherlich nicht die beste Zahnpasta war, sondern entweder die erste oder sogar einzige, die unser alter Zahnarzt selbst kannte, oder – und dies halte ich heute für sehr wahrscheinlich – er fühlte sich einfach zu einer „Expertenaussage“ verpflichtet. Eine Hausfrau und Mutter fragt ihren Zahnarzt nach der „besten“ Zahnpasta. Undenkbar, dass er darauf keine Antwort parat hat. – Oder?

Als ich vor ca. 3 Jahren Marshall Goldsmith auf LinkedIn nach seiner Einschätzung zur Trump-Politik zur Rückverlagerung von Produktionskapazitäten des Autoherstellers FORD aus Mexiko in die USA befragte, bekam ich von ihm die Antwort „Ich weiß es nicht.“ 
Ich insistierte und führte ins Feld, dass er doch bis vor wenigen Jahren langjähriger Coach des ebenso langjährigen FORD-CEO Allan Mullaly gewesen sei und sicherlich immer noch eine gewisse Nähe dazu habe. 
Seine Antwort war weise und mir eine Lehre. Er wies mich zunächst darauf hin, was sein Expertise-Feld ist und dass er dort deshalb ernst genommen werde, weil er nur zu Themen spreche, in denen er Expertise habe. Dann schloss er: „Wenn jeder Profi diese Frage ebenso gut beantworten könnte wie ich – was hier der Fall ist – arbeite ich hart daran, keine Meinung zu äußern“. – Point taken.

Wann haben Sie zuletzt „Ich weiß es nicht“ gesagt? Oder, andersherum gefragt: Wann haben Sie sich zuletzt dabei ertappt, dass sie eine Antwort gegeben haben, von der Sie nicht wirklich überzeugt waren und an deren Stelle ein ehrliches „Weiß ich nicht“ die bessere Wahl gewesen wäre?
Wie sorgsam ziehen Sie die Grenze zwischen dem tatsächlichen Feld Ihrer Expertise und dem viel größeren Feld jenseits davon, wo Ihre Aussage eigentlich nur eine Meinungsäußerung von mehreren oder sogar vielen ist? 

Da lässt der Chef die Mitarbeiterin zum dritten Mal die Powerpoint-Folie minimal verändern, ohne dass sie dadurch wirklich aussagefähiger würde. Aber es hat einen Effekt: Der „Zusatz-Senf“ vom Chef macht es vielleicht 5% besser, kostet jedoch Zeit und Nerven und nicht selten 50% der Motivation der Mitarbeiterin.
Es fällt uns oft ach‘ so schwer, wenn wir uns herausgefordert fühlen, zum Beispiel als Führungskraft von einem Mitarbeiter, diesen unseren Senf nicht dazu zu geben. Warum nur? Weil man es als Chef kann. Und weil man die Kontrolle haben möchte. Weil man die Idee, in die man sich verliebt hat, umgesetzt sehen möchte.
(Oder weil ich smart und meiner Sache sicher wirken will – sogar da, wo es keine Sicherheit gibt oder geben kann?)

Betrand Russell sagte: „Das Problem mit der Welt ist, dass sich Idioten und Fanatiker stets so sicher sind, und weise Menschen so voller Zweifel.“

Wie wäre es, wenn wir uns und den Menschen um uns herum etwas mehr Zweifel, Offenheit und Unsicherheit erlauben würden? Und stattdessen öfter mal zum Mitarbeitenden sagen: „Ich weiß nicht, was denken Sie?“ 
Eine weise Strategie, die von „Kontrolle haben und gehorsame Gefolgsleute erziehen“ in die Gegenrichtung zielt –  zu „Kontrolle geben und denkende Anführer erschaffen“.

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