Führen auf Distanz – jetzt und für immer?

Juni 15, 2021 SGuenther No comments exist

Ein Thema, das reflektierte Führungsmenschen derzeit umtreibt, ist die durch „Home Office“ notwendig gewordene Führung auf Distanz – das ganze Team oder Teile dessen sind nicht vor Ort, sondern arbeiten „remote“, also online, in der Regel vom häuslichen Arbeitsplatz.

Zunächst lässt sich feststellen, dass dies in zahlreichen Unternehmen und Branchen eine schon lange geübte Praxis ist. Vertriebsmitarbeiter arbeiten häufig in „mobiler Telearbeit“, in international aufgestellten Unternehmen erstrecken sich Teams über viele Zeitzonen, und manche Unternehmen, insbesondere im Technologie-Sektor, haben überhaupt kein zentrales Büro mehr. Ihre Mitarbeiter arbeiten von „anywhere“, sie müssen nicht pendeln und nicht umziehen – heute ein durchaus gewichtiger Wettbewerbsfaktor am Arbeitsmarkt.

Die Corona-Pandemie hat uns innerhalb kürzester Zeit in eine neue Arbeitswelt geworfen, die in den allermeisten Fällen erstaunlich gut funktioniert hat. Nun zeigt sich eine Art „Beweislastumkehr“: Unternehmen und Chefs müssen ihrer Belegschaft erklären, warum überhaupt sie demnächst wieder ins Office kommen sollen. Mitarbeitende und ihre Vertretungen erstellen Umfragen, wie viele Tage man denn gern künftig von Zuhause arbeiten möchte und wie viele Tage vor Ort. SAP stellt seinen Mitarbeitern global komplett frei, von wo sie arbeiten möchten, bei Apple hingegen gibt es einen Aufruhr, weil CEO Tim Cook die Home Office-Tage auf drei pro Woche begrenzen will. Und selbst konservative Unternehmen überarbeiten ihre Dienstvorschriften und suchen neue, praktikable wie auch mitarbeitergerechte Lösungen.

Standen vor Monaten noch die Nachteile und Einschränkungen von Führung und Zusammenarbeit auf Distanz im Vordergrund, treffe ich mittlerweile mehr Menschen, die dieser „New Work“-Situation Vorteile abgewinnen können. Das zeitaufwendige Pendeln entfällt, die Arbeit in den eigenen vier Wänden ist ungestörter und konzentrierter, ebenso lassen sich andere Lebensbereiche besser mit der Arbeit vereinbaren.

Ja, es gibt die Kehrseite dazu immer noch und auch sie ist gewichtig.

Ich will dabei nicht lange auf die ewig Gestrigen eingehen; Chefs, die ihren Mitarbeitern konstant misstrauen, sie selbst bei hohen dreistelligen Inzidenz-Werten gegen alle Empfehlungen im Büro antreten ließen und für die Arbeit immer noch ein Ort ist anstatt der Erbringung einer Leistung. Das ist erbärmlich und man muss diese Leute fragen, wer denn diese Menschen eingestellt (oder behalten) hat, denen sie so sehr misstrauen, und ob ihnen jegliche Mittel fehlen, Arbeitserfolge auch dann festzustellen, wenn der Mitarbeiter nicht in ihrer Rufweite sitzt.

Mir geht es um reale Nachteile der Distanzarbeit. So lässt mit zunehmender räumlicher Distanz auch die Kohäsion, das Zusammengehörigkeitsgefühl, nach. Wir nehmen am Telefon und in Videokonferenzen unser Gegenüber nur eingeschränkt wahr – selbst dann, wenn die Technik erstklassig funktioniert, was sie nicht immer tut. Gestik, Mimik, „Atmosphäre“ und Zwischentöne gehen leichter an uns vorbei. Wir schauen gefühlt von außen auf die Gruppe, die wir auf dem Bildschirm sehen und fühlen uns distanzierter. Der Plausch auf dem Gang, in der Kantine oder Kaffeeküche fehlt, was Zeit spart, jedoch auch Austausch, Weitergabe und Interpretation von Informationen sowie gegenseitige Unterstützung verringert. So mancher fühlt sich abgehängt, fühlt sich weniger gut informiert und integriert.
Und ja, es gibt die wichtigen, strategischen oder sensiblen Themen, bei denen man sich gern in die Augen schauen möchte und nicht auf einen Teams-, Zoom-, Skype- oder Webex-Screen.

Es ist ratsam, sich das jeweils verwendete Medium genau zu überlegen: Wann erfüllen eMail oder Chatfunktion den Zweck, wann ist der Griff zum Telefon vorteilhafter, wann eine Videokonferenz?

Eine hilfreiche Regel lautet: Je weniger Klarheit und Einigkeit besteht, je mehr Raum für Missverständnisse oder Konflikt existiert, je wichtiger das Thema ist, umso mehr Sinne sollten involviert sein. Den Gesprächspartner zu hören ist „sinn-reicher“ als nur etwas zu lesen, sie oder ihn zu sehen, nochmals umfassender – das Risiko von Spekulation und Unterstellungen nimmt ab, je mehr wir vom Anderen wahrnehmen können.

Alles, was den Austausch echter und unmittelbarer macht, kann helfen. So sollte man in Videokonferenzen mit bis zu 10 Teilnehmern durchaus die Mikrofone angeschaltet lassen, wenn nicht gerade im Einzelfall lauter Hintergrundlärm stört. Auch gemeinsam an einem Tisch sitzend hören wir ja Rascheln, Atmen, Räuspern und wir erreichen mit „Mikro an“ eine andere Qualität von Live-Atmosphäre, die auch den Austausch leichter macht.

Kaum jemand wird sich an alle Details der Pandemiephase erinnern, aber daran, wie man in dieser außergewöhnlichen „Home Office“-Zeit vom Vorgesetzten behandelt wurde, voraussichtlich schon. Darum empfehle ich schon lange, aktiver und häufiger als früher den Kontakt zu suchen, sich nach Stimmung, Arbeitssituation und eventuellen Problemen zu erkundigen, die man dann vielleicht gemeinsam lösen oder mildern kann. Nicht jeder hat sein eigenes, ruhiges Arbeitszimmer, viele Arbeitnehmer litten (oder leiden immer noch), je nach privater (Familien-)Situation, an Überforderung oder Vereinsamung. Es gehört zur Fürsorgepflicht des Vorgesetzten, sich hierfür zu interessieren.

Insgesamt braucht es auf Distanz von vielem „mehr“: Mehr Aufmerksamkeit und Empathie, mehr Vertrauen, mehr Transparenz, mehr Klarheit über Arbeitsstatus und -verteilung, mehr Bemühen um Gemeinschaft, mehr Darstellung und Würdigung individueller Beiträge.
Gute Führung bleibt gute Führung, auch auf Distanz, schlechte Führung bleibt schlecht oder wird noch schlechter.

Meine Empfehlung ist, dieses wichtige Thema weiterhin stetig und vertrauensvoll mit den eigenen Mitarbeitern zu besprechen, gemeinsam Regeln festzulegen, Dinge auszuprobieren und zu adjustieren. Es geht dabei nicht nur um die Perspektive der Führungskraft, sondern vor allem auch um die Organisation von Zusammenarbeit für alle Mitarbeiter.

In den meisten Fällen wird das Distanz-Thema nicht einfach verschwinden. Gerade die wertvollen, besonders gesuchten Mitarbeiter werden Flexibilität beim Arbeitsort erwarten. Wir üben gerade die Zukunft und in dieser werden häufig Mitarbeiter im Wechsel vor Ort und online arbeiten, Teams werden seltener komplett physisch anwesend sein, vielleicht werden sich Team-Meetings und Strategietage auf einen oder zwei zentrale Anwesenheitstage pro Woche konzentrieren.

Jede Organisation muss ihre eigene, für sie passende Lösung finden. Die Mitarbeiter frühzeitig und auf Augenhöhe dabei mit einzubeziehen, ist ein essenzieller Schritt für Wertschätzung, Akzeptanz und Autonomie.
Wer sich hingegen heute darauf freut, alle seine Leute demnächst auch gegen ihren Willen wieder vor Ort antreten zu lassen, wird dies nicht verstehen können.  

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