Als hätte es eines weiteren, starken Beweises gebraucht: „VUCA“, der Begriff, der für „Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity“ steht und für die damit einhergehenden Herausforderungen, ist in der Geschäftswelt schon seit einigen Jahren in aller Munde.
Allerdings liefert nun die Wucht, mit der uns die zweite Welle der Corona-Pandemie trifft, ein überaus drastisches Beispiel, was es ganz real mit diesen Faktoren auf sich hat.
Volatil sind nicht nur die täglichen „Key Performance Indicators“ der Pandemie, auf die wir uns gewöhnt haben zu schauen – Neuinfektionen, 7-Tage-Inzidenz, Todeszahlen und der „R-Wert“. Volatil ist auch die Stimmung zwischen Hoffnung und Trostlosigkeit, positiven und negativen Wirtschaftsmeldungen und den Reaktionen darauf. Und versteht eigentlich jemand den massiven Einbruch der Börsen im letzten Frühjahr (1. Welle) und hingegen die Höchststände der Aktienmärkte jetzt, in der vielfach schlimmeren 2. Welle? Volatil heißt auch sprunghaft neue Situationen, so dass Maßnahmen oder „Change“ noch in der Umsetzung von neuen Notwendigkeiten überholt werden.
Unsicher ist die Zukunft, der Planungshorizont hat sich für viele auf Wochen und Tage verkürzt. Passieren kann alles – und sein Gegenteil. Unternehmen machen es der Polititk nach und fahren „auf Sicht“, immer bis zur nächsten unbeleuchteten Kurve. Eine Langfriststrategie existiert nicht nur meist nicht, sie scheint auch kaum jemandem zu fehlen. Vielleicht auch wenig Sinn zu machen. Der Lockdown wird in Wochen-Häppchen verlängert, je nach Datenlage, die Bevölkerung und die Betriebe re-agieren entsprechend darauf.
Ich kann mir vorstellen, dass gerade für unsere Politiker, die ja meist Juristen sind – gewohnt, Regelungen nachzulesen oder neue in langen parlamentarischen Verfahren zu erstellen – die aktuellen Herausforderungen besonders hoch sind.
Komplex ist eine Situation, wenn sie schwer durchschaubar ist und keine simplen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aufweist. Wenn zahlreiche Einflussgrößen und Variablen existieren, die sich zudem gegenseitig beeinflussen, und ihre Wechselwirkungen zunächst unklar sind.
Ein Volk, das schon immer zig Millionen Fußball-Bundestrainer hatte, hat nun zig Millionen Pandemie-Experten, Virologen, Epidemiologen, alle mit ihren eigenen Interpretationen, Ideen und Prognosen, fast alle mit kurzer Halbwertzeit. Wem glauben? Wer blickt noch durch im Wirrwarr von Statistiken, Maßnahmen, Impfungen, Medikamenten und Lehrmeinungen….? Liegt die Mehrheit richtig oder braucht die Führungskraft / der Unternehmer eine ganz eigene, andere Perspektive?
„Ambig“ – das Adjektiv las ich vor Kurzem erstmalig und es übersetzt sich wohl am besten mit „mehrdeutig“. Diese ist vielleicht derzeit die interessanteste der vier VUCA-Ausprägungen.
Eine Aussage, eine Meinung, eine Entscheidung ist nicht nur heute richtig und schon morgen falsch. Möglicherweise ist sie schon heute gleichzeitig richtig und falsch.
Für die Börsen: Ist der Übergang von Trump zu Biden in den USA gut, weil wieder Verlässlichkeit und Vernunft einkehren, oder schlecht, weil mit Steuererhöhungen und einer weniger unternehmensfreundlichen Politik zu rechnen ist?
Zu Corona: Wem die knappen medizinischen Ressourcen widmen – dem Kränksten, dem in der Klinik zuerst Eingetroffenen oder dem mit den besten Genesungschancen? Wen zuerst impfen – die Gefährdetsten oder diejenigen, die sich an vorderster Front, unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit und für überschaubaren Lohn, um diese kümmern? Impfen verpflichtend machen für alle, die qua Position mit besonders Schützenswerten arbeiten? Oder der körperlichen Selbstbestimmung Vorrang geben und nicht die Personalknappheit in der Pflege mit durch Zwang eventuell ausgelöste Job-Flucht verschärfen?
Was auch immer man tut, die Entscheidung für etwas Richtiges ist gleichzeitig die gegen etwas Anderes, das ebenso begründbar „richtig“ ist. Wer sich entscheidet, macht sich gleichzeitig potenziell schuldig.
Wie umgehen mit diesem „A“ für Ambiguität? Eine interessante Antwort gibt Waltraud Gläser auf der www.vuca-welt.de in ihrem sehr sehenswerten Vortrag
https://www.youtube.com/watch?v=4Rh_O7fWp5w&feature=youtu.be
Die Grundidee ist, zu jedem VUCA-Buchstaben einen positiven und gleichzeitig passenden Alternativbegriff zu finden, sozusagen als ein „Gegengift“ und eine hoffnungsvolle Gegenposition. Dies wäre zum Beispiel „Vision“, „Understanding“, „Courage“ und „Agility“.
Meine Favoriten unter „A“ sind das Duo gemeinsame Ausrichtung sowie die Agilität im Mindset und im Vorgehen – auf Englisch „Alignment“ und „Agility“. Beides keine Zauberstäbe, aber in dieser Kombination äußerst wirkungsvolle Waffen.
Eine gemeinsame Ausrichtung schöpft aus den Werten und erforscht die essentiellen Absichten, die wir teilen. Sie entsteht, indem wir Interessenskonflikte nicht negieren, sondern begrüßen als eine Chance, Klarheit zu gewinnen und darüber das Verbindende zu finden. Und uns dann motiviert auf etwas festzulegen, das wir bereitwillig unterstützen. Dies ist dann kein Kompromiss, sondern die Einbeziehung eines größeren Systems von Beziehungen, Absichten, Bedenken und Umständen zu einem breiteren Gesichts- und Möglichkeitsfeld, so dass die jeweiligen bedeutsamen Vorstellungen darin Platz haben.
Hand in Hand mit dieser Ausrichtung geht der agile Mindset: das überzeugte Bewusstsein, dass Zielklarheit nicht jederzeitige Klarheit über den Weg zum Ziel einschließen muss. Dass iteratives Vorgehen, kleine Schritte und Verbesserungen nicht die Absage an große Ideen und hohe Standards implizieren. Dass wir Neues nur erfahren und lernen können, wenn wir uns auf den Weg machen, bereit zu Fehlern und zur Kurskorrektur. Und dass es sich stets lohnt, gemeinsam aus Erfahrungen Verbesserung zu machen.
Hierfür braucht es die Sprache der (Ergebnis-)Offenheit, der Ehrlichkeit miteinander und der Verbindlichkeit.
Darüber zu reflektieren und daraus meine jeweils ganz individuelle Umsetzung abzuleiten, scheint mir eine würdige Aufgabe für einen Januar 2021. Gerade auch, um den eigenen Umgang mit Disruption und Wandel zu lernen bzw. zu verbessern.