Bitte nicht nur aufrichtig!

September 20, 2020 SGuenther 1 comment

Vor wenigen Tagen las ich in den Prinzipien eines (erfolgreichen, gut geführten) Unternehmens, dass man miteinander „aufrichtig“ umgehen  und sprechen will. 
Das ließ mich innehalte. Es klingt spontan sehr sympathisch. Das Wort „aufrichtig“ enthält den Bestandteil „richtig“ und assoziiert „aufrecht“ zu sein. Nicht verbogen, vage, eingeknickt, weggebeugt, vermeidend. 

Aber Vorsicht! – Führungskommunikation ist kein einfaches Feld. 

„Aufrichtig“ steht dafür, ehrlich das mit jemandem zu teilen, was in einem vorgeht, also „offen seine Meinung zu sagen“. Es bedeutet, das heraus zu lassen und öffentlich zu machen, was für mich „richtig“ ist, wie ich etwas sehe, beurteile, empfinde. 

Zur wahrhaftigen „Offenheit“ gehört jedoch offen sprechen und offen sein für die abweichenden Sichtweisen und Meinungen anderer Menschen.

Das Problem der „Aufrichtigkeit“ ist deswegen, dass sie häufig nicht erkennt und unsensibel dafür ist, dass mein Gegenüber die Dinge ganz anders sehen, beurteilen, empfinden mag. 
Es spricht die naive, unreflektierte Überzeugung, dass meine Sichtweise, meine Meinung und Empfindung die richtigen sind – andere hingegen folglich unrichtig.

Zwar ist dies in einer Interaktion besser als meine Meinung zurückzuhalten, etwas zu verschweigen, das ich eigentlich sagen sollte, oder gar bewusst die Unwahrheit zu sagen. Damit nähre ich Misstrauen und im „besten Fall“ weiß der Gegenüber nicht, wo er bei mir dran ist. Das macht es sehr schwer, miteinander umzugehen. 
Wer „aufrichtig“ ist, öffnet das vorher Verborgene, gibt etwas von sich preis, schafft Klarheit, macht einen Schritt auf den anderen zu und geht damit auch ins Risiko: „Seht her, wo ich stehe und was ich denke!“

Diese Aufrichtigkeit wirkt  jedoch in der Kommunikation häufig polarisierend und damit konfrontativ. Wenn ich jemandem „aufrichtig“ meine Meinung sage, sie oder er den Sachverhalt aber ganz anders sieht, provoziere ich leicht eine Abwehrhaltung, eine Verteidigung oder aktive Opposition. Schnell kommt unbewusst beim Anderen an, dass für mich meine Sichtweise die allein akzeptable ist und ich sie oder ihn mit der anderen Sicht der Dinge ins Unrecht setze. 
Dann gilt: „Wenn du nichts mit jemandem erreichen willst, dann sag ihm gleich im ersten Satz, dass er Unrecht hat.“ 

Aus diesem Grund lassen mich Satzanfänge wie „Es ist doch klar, dass….“, „Ich sage ihnen mal, wie es ist….“, oder „Der Punkt ist doch der…“ innerlich zusammenzucken. 
Alarm! – hier beansprucht jemand die Interpretation der Welt zur Wahrheit für sich. 

Lassen Sie uns, gerade als Führungskräfte und als Menschen in Verantwortung für die Gestaltung von Beziehungen, den zweiten Teil der „Offenheit“ ebenso stark gewichten wie den ersten, also das offen sein ebenso wie das sich offen äußern.  

Kleine Unterschiede im Sprechen können dabei große Unterschiede machen, wie wir vom Gegenüber verstanden werden. 
Finden wir doch Formulierungen, mit denen wir unsere Sicht kundtun, ohne andere Sichtweisen herabzusetzen oder gleich die Alleininterpretation der Wirklichkeit zu reklamieren!

Beginnen wir bei den Fakten, die der Andere als solche sehen und akzeptieren kann. Verwenden wir vorsichtigere, bescheidenere, reflektierte Formeln: „Meine Interpretation daraus war….“, „Ich würde das so verstehen….“, „Meine spontane Meinung dazu ist…. – aber wie sehen Sie das?“

Signalisierte Wertschätzung für andere Sichtweisen und ehrliche Neugier ergeben eine starke Brücke zum Gesprächspartner. Misstrauen und Abwehr werden unnötig. 
Gemeinsam können wir dann die Dinge vollständiger sehen, besser beurteilen und daraufhin klügere Entscheidungen treffen. Wer einen Teil der Wirklichkeit ausschließt und sich auf seine persönliche Wirklichkeit beschränkt, bleibt „aufrichtig“ dümmer als nötig, stößt andere zurück und vergibt die Chance, die sich aus dem Zusammenfügen von Unterschiedlichkeit ergibt. 

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